Bericht aus Wolfenbüttel

Bericht aus Wolfenbüttel

Wolfenbüttel ist eine schöne Stadt! Staunend bewundert der eben Angereiste auf einem ersten Spaziergang die hohen, farbenprächtigen Fachwerkhäuser, die die Strassen und Plätze säumen. Ein wenig erstaunt, fragt er sich, weshalb nicht mehr Menschen diese Strassen und Plätze beleben, gewöhnt sich aber rasch daran. Es hat auch etwas Angenehm-Ruhiges, dass diese Stadt gleichsam leer ist und während der vier Tage, die er hier verbringt, auch bleibt. 

Gekommen bin ich aus Anlass der Jahrestagung mit Mitgliederversammlung der deutschen Forschungsloge Quatuor Coronati, die vom 11. bis 14. Juli im Haus der Loge „Wilhelm zu den drei Säulen“, aber eben nicht nur dort stattfindet. Der Grund dafür ist das einzigartige Freimaurer-Festival, das in der Lessing-Stadt während des ganzen Sommers, das kulturelle Leben bereichernd, stattfindet. Forschung hat mit Neugier und Experimentierlust zu tun, und so ist es denn natürlich, aber keineswegs selbstverständlich, weil von der Tradition abweichend, dass die Quatuor Coronati ihre Zelte in einem solchen Kontext aufschlägt.

Die Neugier gilt dem Miteinander und Ineinander von Freimaurerei und Öffentlichkeit, wie es sie in dieser Form und Dauer noch nie gegeben hat. Und diese Neugier und Entdeckerfreude wird reich belohnt. Es zeigt sich nämlich an den zwei Beispielen, über die ich hier ein wenig eigenwillig berichte, dass wir Freimaurer gut beraten sind, uns darauf mutiger einzulassen. Den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, zitieren wir häufig. Den Wagemut, uns in ungesichertes Gelände zu begeben, preisen und zeigen wir weit seltener.

Ob diese Ängstlichkeit wohl etwas mit der jahrhundertelangen katholischen Verdammung der Curiositas zu tun hat, deren abschreckende Figur der mittelalterliche Arzt, Forscher und  Teufelsbündler Doktor Faustus war, mag sich auch der Freimaurer Johann Wolfgang von Goethe gefragt haben, als er am 12. Juli 2024 vor dem Lessinghaus auf denjenigen wartete, der diesem Gebäude einmal seinen Namen geben würde. Wie sich sein Mephisto, als er in demjenigen Stück, das den Schreck der Frommen zu einer Figur der Weltliteratur machte, auftrat, falscher Waden bediente, so bediente sich Goethe falschen Schuhwerks, nämlich schwarze Turnschuhe, als er, sonst ganz Mann des 18. Jahrhunderts, dort stand. Und auch Gotthold Ephraim Lessing zeigte den gleichen Trick, als er, Perücke und Dreispitz auf dem Kopf, in blauen Turnschuhen eiligen Schrittes herbeikam. In dieser Ausnahmesituation eines Festivals wollten die beiden, die einander vorher nie begegnet waren, sich nun endlich einmal gründlich über die Freimaurerei aussprechen. Goethe, von Faust und sich selbst geradezu besessen, argumentierte dabei vor allem mit Zitaten aus seiner Tragödie, Lessing, der den Stoff auch bearbeitet hatte, und einmal gesagt haben soll „meinen Faust holt der Teufel, ich aber will Goethe seinen holen“, bot dem Dichterfürsten Paroli und infiltrierte Falk und Ernst geschickt in den Diskurs, worauf sich Goethe, der, wie man weiss, eben alles gelesen hatte, aber sehr wohl einzustellen wusste. Sie marschierten den ihnen folgenden Eingeweihten und Nichteingeweihten auf einem Stadtspaziergang heftig gestikulierend und immer wieder laut rufend voran und führten das Gespräch an mehreren Stationen zur grossen Freude des erheiterten und belehrten Publikums fort. Je näher der Zug seinem Ziel, nämlich einem Gedenkstein für Eva König und Lessing und deren Sohn, kam, umso mehr veränderten sich Stimmung und sogar Besetzung: Die Texte stammten nun aus dem Briefwechsel von Eva König und Lessing vor ihrer kurzen Ehe und aus schriftlichen Zeugnissen des Dichters, die dessen Trauer und Verbitterung angesichts des schnellen Todes erst der geliebten Frau und dann des kleinen Sohns zum Ausdruck bringen. Lessing blieb Lessing, aus Goethe aber war, äusserlich unverändert, Eva König geworden: ein ganz anderer  Mensch. 

Erheitert und belehrt, nachdenklich und traurig dankten alle, ob sie nun Freimaurerinnen und Freimaurer waren oder nicht, Alexander Trettin, Distriktmeister, als Goethe, und Dennis Holewa, Sekretär der Forschungsloge, als Lessing, für diesen grossartigen Spaziergang.  

Am Samstag, 13. Juli, war Lessing auch wieder dabei, diesmal im Erdgeschoss eines Gebäudes, das „Kommisse“ genannt wird. Allerdings inkognito. Äusserlich war ihm nichts anzumerken, und auch innerlich, bzw. geistig nicht. Denn jetzt war er ein Existentialist, aber mehr im psychologischen als im philosophischen Sinn: Denn jetzt verfocht er die Position, dass es erstens und letztens immer darauf ankommt, was etwas – oder jemand – mit Dir „macht“. Dafür aufmerksam zu sein, dem eigenen Ich reflektierend treu zu bleiben, von dort aus auf das Du zuzugehen, dabei vielleicht manchmal provozierend zu wirken, tatsächlich aber dem Gegenüber zu ermöglichen, sich auch im Wesen treffen zu lassen und sich dadurch auf das Gegenüber wesentlich einzulassen. Aber lassen wir das Versteckspiel. Dennis Holewa verkörperte jetzt niemanden mehr, sondern war sich selbst. An einem öffentlichen Anlass mit fünf Referenten, die von sehr unterschiedlichen Positionen ausgehend, Impulsreferate hielten zum Thema „Humanität – das unbekannte Ziel“ und dann in einer Podiumsdiskussion, hervorragend moderiert von Bastian Salier, darüber miteinander und auch mit dem Publikum ins Gespräch kamen. 

Es würde nun zu weit führen, alle Vorträge im Einzelnen vorzustellen. Deshalb nur in Stichworten: Wie Dennis Holewa, nur schon seit sehr viel längerer Zeit, ist auch der Wiener Professor und Psychotherapeut Alfried Längele dem Existentiellen, dem Ich, dem Du und dann dem Wir verpflichtet. Humanität zeigt sich, wenn das Ich sich selbst ins Spiel bringt, gleichzeitig aber auch Resonanzraum für das Du ist. Prof. Klaus-Jürgen Grün, Alt- und Ehrenvorsitzender der Forschungsloge, zeigte am Beispiel der Ringparabel, wie Wahrheit und Humanität sich nur beglaubigen lassen durch die Tat, im Handlungsvollzug. Verlangt wird der Tatbeweis; er tritt an die Stelle von religiöser Offenbarungslehre und theologischer, aber auch philosophischer Spekulation. Der von Dr. Gerhard Engel vertretene evolutionäre Humanismus proklamiert, dass an den evolutionären Prozessen der Natur sich orientierendes Denken und Handeln den Menschen mehr Freiheit, Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeit gibt und darin humaner ist als alle Fixierung und Regulierung nach ideologischen Massstäben. Und der Wolfenbütteler Bürgermeister und Schirmherr des Festivals Ivica Lukanic empfahl eine den Werten von Humanismus und Aufklärung, wie sie im Grundgesetz zum Ausdruck kommen, verpflichtete Politik und einen respektvollen, aufrichtigen Umgang miteinander und beklagte die immer weiter um sich greifende, nur auf die eigenen Interessen fixierte Verrohung in der Gesellschaft. Aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und diskutiert, schien Humanität am Schluss aber doch ein unbekanntes Ziel zu bleiben. Das ist nicht angenehm, aber wohl realistisch – und hoffentlich auch produktiv.

Gut ist aber auf jeden Fall, dass hier, in der Kommisse in Wolfenbüttel, die Freimaurer und Freimaurerinnen nicht allein, sondern zusammen mit Menschen, die nicht dem Bund angehören, aber ähnliche Ziele verfolgen, über solche Fragen nachdachten und es alle zusammen nicht versäumen wollen, „die Kräfte des Guten zu üben“. So sagte es Goethe! 

Christoph Meister, Forschungsloge Quatuor Coronati und Forschungsvereinigung e.V.